Tallinn Music Week 2022

Nach der gelungenen ersten Besuch der Tallinn Music Week machten wir uns auch in diesem Jahr auf den Weg in die estnische Hauptstadt.

Nach dem erschreckenden Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar, hat die TMW  reagiert und das Festival eindrucksvoll umgestaltet.

Im Rahmen der Opening Speeches und des Eröffnungs Panel unter dem Titel „The impact of music in crisis and conflict“ wurde die Fahrtrichtung der diesjährigen Konferenz erläutert.

So wurden die russischen Acts kurzfristig wieder ausgeladen, was bei aller Traurigkeit des Anlasses auf überwiegendes Verständnis der Beteiligten stieß. Dafür wurde der zweite Konferenz und Festivaltag in die Grenzstadt Narva verlegt.
Das Eröffnungspanel war geprägt von Eindrucksvollen Statments der ukrainischen Rapperin Alona Savranenko aka alyona alyona, die am Abend auch mit einer beeindruckenden Liveperformance aufwarten konnte.

Im Anschluss ging es vorerst zurück zum alltäglichen. So wurden im Panel „Strengthening the sector: new initiatives and roles of music export offices“ die Funktionen und Fördermaßnahmen verschiedener europäischer Musik Export Büros aus Island, Frankreich, Finland,Schweden und Deutschland von ihren Vertreter*innen vorgestellt.

Auch die Folgen der Corona Pandemie waren ein wichtiges Thema in diesem Jahr, so wurde in „ Resilience & recovery of the live industry“ auf die Auswirkungen und die Gegenwärtige Situation und andauernden Schwierigkeiten der lokalen Musikmärkte geblickt. 

Unser persönlicher Schwerpunkt, die interationale Zusammenarbeit und Vernetzung kleiner Musikspielstätten stand dann im Panel „ Small venues in a big world“ auf dem Programm.
Laura Ferrero vom serbischen Club Kvaka 22 präsentierte  das  EU finanzierte Projekt „The Pop Venue as an Experimental Community Space“ bei denen sie mit Venues aus San Sebastian, Brüssel, Krakow, Pristina und Aarhus kooperieren.

Frisch inspiriert von diesem Panel nutzten wir die Gelegenheit und luden Teilnehmer*innen und Clubbetreibende aus Tallinn zu einem Austausch nach Leipzig ein, den es in den nächsten Monaten vorzubereiten gilt.

Im letzten Panel des Tages „Clubbing Heritage x Hall Tallinn“ wurden das empowernde Potential von Nachtleben und Clubkultur erörtert. Im besonderen für die Eindrucksvollen Worte von der Club Hall Betreiberin Elena Natale und Marc Wohlrabe von der Clubcommison Berlin, lohnt es sich einen Blick in den Mitschnitt dieses Panels zu werfen.

Für das musikalische Programm blieb in diese Nacht wenig Zeit, den am frühen Morgen sollte die Reise nach Narva weitergehen. Für eine kleine Tour durch die einige Locations bleib aber trotzdem etwas Zeit. Highlights waren der schon erwähnte Auftritt von alyona alyona, die für unsere Ohren ungewöhnlichen Sounds der Folktronica Stage, ebenso wie die Fenno-Ugria Night in der vorherigen Nacht. Den Abschluss der Nacht fanden wir dann wieder bei interessanten Gesprächen im Club Hall.

Nach unserer Ankunft im 100km östlich von Tallinn gelegenen Narva, blieb uns noch etwas Zeit bis zur Eröffnung des zweiten Festivalabschnitts, den wir für eine erste Erkundungstour durch die Stadt nutzt. In der drittgrößte Stadt Estlands sind die Spuren der Sowjetzeit noch deutlich zusehen. Wie wir später im Panel „The Story of Narva. Why does it matter?“ von Ivan Sergejev erfahren werden, wurde das historische Narva im 2. Weltkrieg nahezu vollständig zerstört und mit funktionalen Wohnblöcken wieder aufgebaut. Für die Arbeit in den großen Fabriken der Stadt wurden Arbeiter aus anderen Sowjetrepubliken angesiedelt, während die Ursprüngliche Bevölkerung nicht n die Stadt zurückkehren durfte.
So sind auch heute noch, lange nach dem die Fabriken der Stadt ihre Tore geschlossen haben, 95% der Bevölkerung ein Teil der russischsprachigen Minderheit Estlands. 

In mitten dieses Settings findet sich mit dem VABA LAVA NARVA ein frischgestrichener Farbtupfer. Das Theaterzentrum beinhaltet einen Konzertsaal, Co-Working Spaces und andere Freizeiteinrichtungen und dient so als kreative Keimzelle für die Entwicklung der Stadt.

Auf dem Außengelände beginnt die Konferenz mit einer Schallplattenbörse und Foodtrucks, die auch die Bewohner Narvas zur Konferenz locken. Auf der Bühne hält der Bürgermeister der Stadt seine Eröffnungsrede im strahlenden Sonnenschein, bevor es in den Konferenzräumen drinnen weitergeht. Schwerpunkt des Tages ist die Geschichte der Stadt und wie Kultur als Motor für Wirtschaft, Motivation und soziales Wohlbefinden dienen kann.
Narva jedenfalls investiert in die Kultur und zeigt diese Ambitionen in der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas in 2024.

Weitere Unterhaltsame Vorträge zum Thema Musikexport gibt es von Sigtryggur Baldursson (Managing Director of Iceland Music) „The story of Iceland: export or die!“ und Kaisa Rönkkö, (Executive Director of Music Finland) „The happiest nation with the darkest music“.

Nach den Panels bleibt uns noch genug Zeit die Stadt und die zahlreichen Bühnen in der Stadt zu entdecken. Besonders Eindrucksvoll ist das Open Air Programm am Grenzfluss „Narva“ im Schatten der Hermannsfeste und der Festung Iwangorod auf russischer Seite, die sich hier seit Jahrhunderten belauernd gegenüberliegen.

Während im strahlenden Sonnenschein Musik und Freiheit zelebriert werden, marschieren nur wenige 100m entfernt die Grenzsoldaten mit geschulterten Gewehr.

Als wäre dies nicht genug der Eindrücke, erwartet uns zum Abschluss die Station Narva Bühne auf dem Gelände der alten Baumwollspinnerei Kreenholm. Diese umfasst die 13 ha große gleichnamige Insel mitten im Grenzfluss vollständig und war einst eine der größten Fabriken der Welt. Eine unfassbar dystopische Kulisse bietet das riesige verfallende Fabrikgebäude mitten im Nimandsland zwischen Ost und West. Mitten im Hof der Fabrik stehen die zwei Bühnen die mit Tirzah, Black Daniels und Floating Points noch drei musikalische Highlights für uns bereit halten.

Leider braut sich über der Stadt ein zur Szenerie passend dystopischer Regenguss zusammen, so dass wir uns noch einen Unterschlupf vor der Rückreise nach Tallinn suchen und dabei, ganz im Sinne der internationalen Kooperation, dabei eine polinsich-isländisch-deutsche Reisegruppe bilden.

Dieser Besuch der TMW war somit von ganz anderen intensiven Eindrücken geprägt als unser erster Besuch. Wir freuen uns schon auf die nächste Ausgabe, aber noch mehr auf einen bevorstehenden Austausch in Leipzig.

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